Anja                                                       Tuckermann

 

                                                 Bilder von                                              Hendrik Jonas

 

 

 

 

 

 

 

                   Nusret

                   und

                   die Kuh

Ich heiße Nusret. Ich lebe mit Omi und Opi in einem Dorf in Kosovo. Das Dorf steht ganz oben auf einem Berg. Unser Haus liegt noch ein

bisschen höher, da wo ein steiniger Weg schon zum nächsten Berg hinaufführt.

Als ich, Nusret, noch nicht auf der Welt war, da kamen Soldaten hierher, schossen und jagten allen Leuten Angst ein. Da flohen die Leute in alle Himmelsrichtungen und niemand kehrte zurück, auch nicht meine Eltern. Sie gingen mit meinem Bruder und meiner Schwester nach Deutschland.

Bloß zu Besuch kamen die Leute wieder, da haben sie gesehen, dass das ganze Dorf leer war, bloß Omi und Opi wohnen noch dort. Aber nicht allein, sie haben einen Hund, zehn Hühner, drei Gänse und eine Kuh.

Kurz nachdem ich in Deutschland auf die Welt gekommen war, brachten meine Eltern mich ins Dorf auf dem Berg und ließen mich bei Omi und Opi, damit sie da oben nicht so allein waren.

Ich spiele mit den Küken und helfe Omi bei der Arbeit. Und manchmal arbeite ich mit Opi. Einmal biss mich die Gans Flora in den Po und machte meine Hose kaputt. Ich rannte weg, aber sie verfolgte mich und biss mir in die Hand und wollte nicht loslassen. Ich schrie, da kam Omi aus dem Haus gerannt, schnappte die Gans am Hals

und schleuderte sie dreimal

durch die Luft. Dann ließ sie los.

Die Gans fiel auf den Boden,

rappelte sich

auf und rannte

schnatternd

davon.

„Das macht die

nie wieder“,

sagte Omi

und nahm mich

in die Arme.

Früh am Morgen soll ich Eier holen. Ich krieche ins Hühnerhaus, und sehe unter jedem Busch nach. Aber meistens finde ich nichts. Also lege ich mich auf die Lauer und beobachte die Hühner. Wenn ein Huhn plötzlich laut gackert, nichts wie hin, dann hat es ein Ei gelegt. Und das hole ich mir.

 

Am liebsten mag ich unsere Kuh. Sie ist braun und gibt uns viel gute Milch. Aus der Milch machen wir Quark, Joghurt, Butter und Käse. Omi melkt

sie und ich muss der Kuh währenddessen ein Lied vorsingen und ihren Schwanz festhalten. Wenn die Kuh laut muht, hat sie Hunger. Ich steige auf den Heuboden und werfe ihr Heu hinunter. Einmal fiel ich hinterher, genau unserer Kuh vor das Maul. Sie streckte ihre breite

feuchte Zunge raus

und leckte mir

über das Gesicht.

Manchmal kommt der Briefträger ins Dorf herauf und bringt einen Brief von meinen Eltern. Omi, Opi und ich, Nusret, können nicht lesen. Omi brüht für den Briefträger einen Kaffee. Opi lässt ihn Platz nehmen auf der alten Bank vor dem Haus mit Blick ins Tal. Vor uns liegt die Blumenwiese, auf der unsere Kuh grast.

Mir gibt der Briefträger den Brief. Opi reicht mir sein Messer und ich schneide den Briefumschlag auf, ziehe das Papier heraus

und falte es auseinander.

Das Papier ist voll

mit blauen Zeichen, die ich nicht verstehe. Den Brief muss ich solange halten, bis Omi den Kaffee gebracht hat und der Briefträger ihn ausgetrunken hat und die Neuigkeiten aus dem Tal erzählt hat. Dann darf ich ihm den Brief geben, und er liest vor:

 

„Liebe Eltern, uns geht es sehr gut, seit zwei Wochen geht jetzt auch Lirije in die Schule. Sie kann schon das Alphabet aufsagen. Liridon ist sehr gut in der Schule. Wir sind stolz auf die Kinder. Und was macht unser

kleiner Schatz?“

Das bin ich, Nusret.

„Hoffentlich geht es ihm gut. Wir

haben jetzt beide

wieder Arbeit.

Wollt ihr nicht doch daran                       denken, zu uns zu                  ziehen? Dann könnten               wir jeden Tag zusammen

       sein und ihr seid nicht

        so allein. Bald wollen

             wir auch Nusret zu

             uns nehmen, denn

               er muss auch zur

                    Schule gehen.“

Ich, Nusret, höre gar nicht mehr richtig hin, weil ich mich umschaue und denke, aber Omi und Opi unddie Hühner und die Gänseund der Hund und die Kuh, meine Kuh, - sie alle würde ich nie wieder

sehen oder nur noch

einmal im Jahr in den Ferien, wenn die Eltern mich nach Deutschland holen.

 

Als der Briefträger weg war, hätte

ich gern

gewusst, was noch in dem Brief steht. Aber Omi will nichts sagen und Opi ist in den Wald gegangen um Holz für den Winter zu schlagen. Und ich kann den Brief nicht lesen. Schon lange wollte ich lesen
 und schreiben lernen.
Da denke ich: Ja, ich gehe
nach Deutschland und lerne lesen und schreiben und die
Kuh nehme ich mit, damit
ich wenigstens etwas von
zu Hause bei mir habe.

Und so geht es weiter mit mir: Ich und die Kuh gehen den Weg hinab, die Großeltern winken uns hinterher.

 

 

 

 

„Nusret und die Kuh, wir werden euch vermissen“, ruft Opi. Und Omi ruft: „Nusret und die Kuh, ich werde euch vermissen.“ „Omi und Opi“, ruft Nusret. „Wir werden euch vermissen, aber wir kommen wieder.“

„Muuuh“, ruft die Kuh.

 

Lange stehen wir,

lange gehen wir.

Lange lange

gehen wir.

An der Grenze zeige ich meinen                                     Pass und für die Kuh 

ein Brief, dass sie gesund ist. Der Briefträger hat das gebracht.

 

Lange lange gehen ich und die Kuh, bis wir nach Deutschland kommen. Bis wir in die Stadt zu meinen Eltern kommen. Omi und Opi schlafen schon. Unter Omis Kopfkissen liegt der Stapel mit den Briefen von meiner Mutter. Ich, Nusret,

und die Kuh gehen in

Deutschland zur

Schule. Bei Omi und

Opi kommen

viele Briefe

an. Und Opi muss den Brief selbst mit seinem Messer öffnen, bis der Postbote seinen Kaffee getrunken hat und vorliest:

 

„Liebe Omi, lieber Opi, hier spricht Nusret. Ich kann alles lesen und ich kann alles schreiben. Jeden Tag gehe ich in die Schule, ich habe hier Freunde, mit denen spiele ich Ball oder Fangen oder wir klettern. Jeden Tag denke ich an Euch, ich erinnere mich an alles und vermisse Euch. Ich freue mich, dass bald Ferien

sind, dann kommen wir wieder und können alle Briefe selber lesen, ich und die Kuh. Ich habe Euch lieb. Euer Enkel Nusret“

 

„Liebe Großmutter, lieber Großvater! Ich freue mich auf meinen Stall und den steinigen trockenen Weg, der so gut riecht, und auf die Wiese hinter der Küche. Dort riecht es nach Blüten und Kräutern und Kohl und die Hühner gehen mir auf die Nerven. Das ist herrlich schön. Mir tun schon die Klauen

weh, ich bin froh, wenn Ferien sind, dann schreibe ich nichts mehr. Nie mehr. Wenn Ferien sind, dann kommen wir wieder, Nusret und ich. Die Kuh“

Ich, Nusret, gehe gern in die Schule, weil ich Freunde habe. Die Kuh nicht. Sie kann schon lesen und schreiben, mehr will sie nicht lernen. Sie wartet draußen auf mich, bis die Schule aus ist.

In den Ferien

fahren die Eltern und

Geschwister mit mir und der

Kuh den weiten Weg bis ins

Dorf auf den Berg. Omi und Opi sitzen auf der Bank und warten. „Da seid ihr ja endlich“, sagen sie, als das Auto den Berg hinauf gefahren ist und alle ausgestiegen sind. Ich lasse die Kuh vom Anhänger.

 

Wir verbringen die Ferien zusammen und ich, Nusret, will mit meinen Eltern wieder nach                                 

Deutschland fahren. Ich möchte meine Freunde wieder sehen. Die Kuh bleibt bei Omi und Opi. Schon wieder ein Abschied. Und schon wieder in Deutschland. Ich schreibe an die Kuh, der Briefträger bringt ihr den Brief und sie liest ihn Omi und Opi vor.

 

„Liebe Omi, lieber Opi, liebe Kuh, ich spiele mit den anderen Kindern Fußball und Handball und Völkerball und Brennball und ich darf meinen Ball mit ins

Bett nehmen. Ich gehe immer noch zur Schule. Ich bin gern bei Mama und Papa und Lirije und Liridon und auch bei Euch, aber ich weiß, das geht nicht gleichzeitig. Euer Enkel Nusret und der Freund von der Kuh.“

 

Abends sitzen Omi und Opi wieder auf der Bank und trinken Tee und die Kuh schreibt eine Antwort. Dann schlürft sie aus ihrem Trog Quellwasser aus dem Berg und liest Omi und Opi alle alten Briefe vor.

 

Sie schauen ins Tal und ins

         Abendrot und bleiben

   sitzen, bis es dunkel wird

       und die Kuh nicht mehr

                            lesen kann.

  „O wie gut, dass du lesen

und schreiben gelernt hast“,

sagen Omi und Opi zur Kuh.

             „Muh“, sagt die Kuh.

         Alle sind zufrieden und

          alle haben Sehnsucht.

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